Subjektiv wird von der gemessenen Person gute Leistungsfähigkeit und sehr erholsamer Schlaf angegeben. Der Klient ist Familienvater und beruflich sehr gefordert. In seiner Freizeit macht er Lauf- und Bergsport (leider in Messung keine Sporteinheit erfasst). Wie interpretiert ihr das Ergebnis? Herzlichen Dank für eure Interpretation.
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Diskrepanz subjektives Empfinden/Messungsergebnis?
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Hallo Caroline,
wenn Dein Kunde sich subjektiv als gut leistungsfähig und seinen Schlaf als sehr erholsam sieht, dann wäre es unfair, ihm das gleich mal auszureden. Genauso unfair wäre es aber auch, ihn in seiner Meinung zu bestätigen, wenn die Daten eine so andere Sprache sprechen. Auch wenn die „Wahrheit“ zumutbar ist, darf man damit niemand vor den Kopf stoßen. (Erfahrungsgemäß lügen sich viele Männer zwar, was ihren Gesundheitszustand und ihre Lebensqualität betrifft, mit großer Vorliebe in den eigenen Sack, aber das ist eine andere Geschichte.) Schaut man im schlauen Buch nach, dann zeigt die Messung (mit kleinen Abstrichen) das Syndrom „Chronischer Stress“ (S. 156), aber schon in einem fortgeschrittenen Stadium.
Alleine die Pulsstatistik zeigt das schon, und an der Pulskurve würde man nur mit sehr geschultem Auge u. U. erkennen können, wann er schläft. Durch seine sportliche Betätigung bewegt sich die Herzrate v. a. tagsüber zwar nicht auf einem bedenklich hohen Niveau, aber sie ist praktisch über die ganze Messung gleich. Die Dynamik A zeigt das ja unmissverständlich. Nachdem sich das biologische Alter an sich in einem überschaubar negativen Rahmen hält, glaube ich, dass da etwas positiv verfälscht ist. Mehrmals baut sich während der Messung eine Variabilität auf, die einfach nicht zum Rest der Messung passt, bis letztendlich dann auch die Filter anschlagen. So kommt eine Frequenzverteilung zustande, die mir dubios vorkommt (44% - 24% - 15%). Die 15% in der HF kann ich mir nicht seriös erklären, die passen einfach nicht wirklich zu den restlichen Daten, v. a. wenn man bedenkt, dass sie tagsüber 391 ms2 beträgt und im Schlaf 30. (Im Schlaf ist über weite Strecken sowieso keinerlei Variabilität zu erkennen. Schau mal in einzelne 5-Minuten-Säulen.) Dazu müsste sich ein Mediziner die Daten um 0.30 Uhr, zwischen 10 und 12.30 Uhr und 19 – 20 Uhr in der Med-Analyse genauer ansehen, ob da Rhythmusstörungen nicht immer wieder Filter unterlaufen werden, die dann die HF fälschlicherweise pushen. Würde man diese Zeiten ausschließen, dann sähe die Lage gleich viel dramatischer aus.
Dass er seine Situation selbst nicht so schlecht einschätzt liegt m. E. daran, dass es ja Jahre und Jahrzehnte dauert, bis man datentechnisch da ankommt, wo er sich jetzt befindet. Es sind ganz langsam verschiebende „Shifting baselines“, wie es auch z. B. Blutdruck oder Blutzucker betrifft. Es schleicht sich langsam aber sicher ein, ohne dass man irgendeine Veränderung bewusst wahrnimmt.
Es ist, als ob er seit Jahrzehnten sein Leben als schiefe Ebene erlebt und der hohe Leistungsanspruch – und damit der Stresspegel – in allen Lebenslagen bestimmend ist. Freilich ist Sport eine tolle Möglichkeit, Stress abzubauen und im Alltag einen Tapetenwechsel zu erleben. Ich fürchte nur, dass er sich auch da in seiner Leistungsfähigkeit an anderen bzw. daran misst, wie es bei ihm selbst mit 30 war. Um es überspitzt zu formulieren: Vor lauter Hecheln hat er verlernt zu atmen. Motto: Augen zu und durch! Wenn er das nicht sowieso schon getan hat, würde ich ihm einen umfangreichen medizinischen Check empfehlen, auch um sich einschleichende gesundheitliche Probleme ausschließen zu können. Er mutet sich m. E. viel zu viel zu. Bevor Du ihm die Messung zeigst, zeig ihm eine "gute" Messung und dann erst seine eigene, ohne viel zu kommentieren. Das darf er selber.
Liebe Grüße, Erich
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Lieber Erich,
Ganz herzlichen Dank für deine ausführliche und fachkundige Interpretation.
Sie deckt sich absolut mit meiner Wahrnehmung und Einschätzung. Als
HRV-Anfängerin bin ich aber noch etwas unsicher und extrem froh, um eine so
tolle Unterstützung. Danke nochmals!
Lieber Gruss - Caroline
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